Immer wieder werden inhabergeführte Fachgeschäfte von Großfilialisten gekauft. Und nicht wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter führt der Verkauf ihres bisherigen Unternehmens zu einem weitreichenden Schritt: Sie kündigen und machen sich selbständig. Doch mit welchen Herausforderungen geht das einher? Wie meistert man sie? Und wo erhält man die nötige Unterstützung? Wir trafen Gründerin und Hörakustikermeisterin Claudia Bock, Geschäftsführerin des Hörstudios Erfurt. Gemeinsam mit drei langjährigen Kollegen sowie mit Unterstützung des Individual Akustiker Service (IAS) ist sie 2020 in die Selbstständigkeit gestartet.
Frau Bock, gemeinsam mit Kollegen haben Sie sich 2020 selbständig gemacht. Wie kam es dazu?
Die Idee dafür gab es schon lange. Wir sind zu viert und waren alle in einem familiengeführten Unternehmen angestellt – ich fast 20 Jahre als Meisterin und Filialleiterin. Wir waren ein tolles Team, und wir hatten immer recht unabhängig gearbeitet. Die Zentrale saß im Raum Stuttgart, hier in Thüringen gab es nur zwei Filialen. Wir hatten Vorgaben, die wir erfüllen mussten, damit sich das Geschäft trägt. Der Chef rief hin und wieder an... - Wir kamen wunderbar klar. So ein bisschen wie bei den Musketieren – einer für alle, alle für einen.
Aber die Firmeninhaber wechselten von der dritten zur vierten Generation, und wir wurden verkauft. Erst kamen wir zu einem Unternehmen, das nicht so hierarchisch organisiert war; das war für uns noch in Ordnung. Doch dann wurden wir von einem Großfilialisten übernommen und alles änderte sich. Es war kein schönes Arbeiten mehr. Im Januar 2020 habe ich gekündigt. Ich hatte noch nichts Neues, aber es ging nicht mehr. Innerhalb von wenigen Wochen kündigten die anderen auch.
Und damit war klar, dass Sie sich selbständig machen?
Nein. Die Idee gab es zwar schon drei, vier Jahre. Aber die Entscheidung, es tatsächlich zu wagen, war nicht leicht. Wir sind alle Familienmenschen – mit insgesamt neun Kindern, alle noch schulpflichtig oder im Kindergarten. „Selbst und ständig“ kam eigentlich für keinen von uns in Frage. Das brachte uns zu einer extravaganten Lösung: Wir gründeten alle vier; also vier Gesellschafter zu gleichen Teilen, die alle auch mit ihrem privaten Vermögen haften. Jeder übernahm ein, zwei Bereiche, die ihm am besten liegen; ich übernahm die Geschäftsführung.
Ist es nicht ein ziemlicher Druck, wenn gleich vier von der Neugründung leben müssen? Und dann kam ja noch Corona…
Von der Gründung zu viert haben uns viele abgeraten. Aber es gab auch Dinge, die uns Mut gemacht haben. Wir erfuhren, dass der Großfilialist unser langjähriges Ladenlokal aufgibt, und dass wir es übernehmen können. Und wir kamen in Kontakt mit Herrn Leisten von der IAS, der uns von Beginn an als Mentor und Berater zur Seite stand. Corona betraf uns eher nur privat. Alle hatten sehr lange Kündigungsfristen, bei mir waren es sieben Monate. Wir wurden freigestellt, konnten uns um unsere Familien kümmern, um Homeschooling… Parallel dazu haben wir die Firma aufgebaut.
Da wir Abrechnungen und ähnliche Dinge früher immer selbst gemacht hatten, war uns das schon vertraut. Andererseits war Vieles total neu: einen Businessplan erstellen, Einkauf, Preiskalkulation, Marketing, die ganze Finanzierung…
Wie sind sie vorgegangen?
Für den Einkauf suchten wir nach einer passenden Gemeinschaft; davon gibt es ja etliche. Wir führten Gespräche, kamen in Kontakt mit Jürgen Leisten und wussten: das passt. Er war von Anfang an für uns da und hat uns abgeholt. Es gab Checklisten und Hilfen. Wir verständigten uns telefonisch oder per Zoom: „Der und der Termin steht an, was müssen wir da beachten?“ Fragen stellen, Notizen machen, berichten, wie es gelaufen ist… Wir waren ständig in Kontakt – alle zwei Wochen, manchmal alle zwei Tage. Und wir hatten immer das Gefühl, gut aufgehoben und nicht allein zu sein.
Keine andere Einkaufsgemeinschaft hat uns als angehenden Gründern eine vergleichbare Betreuung angeboten. Als wir im Oktober in den Laden durften, ist Herr Leisten gekommen, und hat sich alles angesehen. Da war das Ladenlokal ein Rohbau. Ehepartner, Bruder, Schwager… jeder hat angepackt und alles wurde komplett neu gemacht; eine Firma hatten wir auch. Innerhalb von fünf Wochen waren wir fertig und konnten eröffnen. Drei oder vier Wochen später meldete sich eine andere Einkaufsgemeinschaft, die wir ursprünglich angefragt hatten: Das Geschäft müsste doch nun eröffnet sein; man würde sich gerne mal vorstellen… – „Besten Dank“, habe ich nur gesagt. „Vor einem halben Jahr hätte ich Sie vielleicht gebraucht…“
War Ihnen die Begleitung durch die IAS wichtiger als deren Einkaufskonditionen?
Gute Konditionen sind natürlich auch wichtig. Ohne die geht es nicht. Andererseits ist der Preis bei unserem Konzept nicht das alleinige Maß. Wir profilieren uns über guten Service, und die Leute schätzen das.
Unterstützung hingegen braucht man, wenn die Herausforderung vor der Tür steht: die Flutkatastrophe, Corona oder eben die Gründungsphase. Genau hier lässt einen die IAS nicht im Stich. Und beim Gründen in der Hörakustik braucht man Kompetenzen und Erfahrungen, die weder Banker noch Steuerberater haben. Dafür ist die Branche zu speziell. Selbst ein befreundeter Banker, Geschäftsführer einer großen Investmentfirma, konnte mir nur bedingt helfen. Die Handwerkskammer kannte zwar die Hörakustik, hatte aber auch nicht, was wir brauchten…
War Herr Leisten dabei, als Sie die Finanzierung mit der Bank geklärt haben?
Er wäre sicherlich gekommen. Aber das war gar nicht nötig. Der Businessplan stand, wir waren gut vorbereitet. Mit unserer Bank passte es auf Anhieb. Es gab sofort die Zusage.
Hilfe gab es immer dann, wenn wir allein nicht weiterkamen. Den Laden hatten wir, und den Vermieter kannten wir seit Jahren. Aber wir bekamen wichtige Tipps für die Vertragsverhandlung. Auch den Ausbau des Ladens konnten wir allein stemmen. Wenn wir dafür jedoch etwas brauchten - Lieferanten, Equipment usw., gab uns die IAS Tipps, wo wir das am besten bekommen.
Wie sieht Ihr lokaler Wettbewerb aus?
Krass. Erfurt hat 14 HNO-Praxen und über 20 Hörakustiker. Alle Großen sind vertreten, manche mehrfach. Kleinere, inhabergeführte Unternehmen gibt es so vier. Ganz genau weiß ich es gar nicht. Eigentlich interessiert es mich nicht (lacht). Wir schauen nicht so sehr auf die anderen. Wir sehen unseren Weg, was wir vertreten können und was für uns richtig ist. Wenn man über Jahre gut gefahren ist, sollte man sich treu bleiben.
Wir setzen klar auf Qualität. Mit den Dumpingpreisen der Großen könnten wir gar nicht mithalten. Aber mit Service heben wir uns ab. Auch da unterstützt uns die IAS. Es gibt eine Reihe geschützter Differenzierungsmarken, aus denen man die passenden auswählen kann: Sympatico-Hörgeräte, den auDIatrie-Hörtest für Diabetiker oder den Branchenpreis „Goldene Concha“, mit dem wir werben. Abgesehen davon müssen wir gar nicht viel werben.
Warum das nicht?
Wir waren über 20 Jahre in diesem Geschäft, unser Team ist seit mindestens 15 Jahren zusammen… Zur Eröffnung gab es eine Zeitungsanzeige mit unseren Gesichtern; die hängen auch im Schaufenster. Dann haben wir eine Homepage, die ich immer mal pflege, und das Team der IAS kümmert sich um unseren Facebook-Auftritt und um Google. Es gibt Facebook-Anzeigen für schmales Budget, die tatsächlich etwas bewirken.
Aber die allermeisten Kunden kommen über Empfehlungen. Die Nachfrage ging vom ersten Tag an durch die Decke. Nach vier Monaten waren wir dort, wo wir laut Businessplan nach vier Jahren ankommen wollten. Besser geht es kaum. Sicher hatten wir den Vorteil, dass die Leute uns schon kannten. Aber inzwischen stehen wir auch in Kontakt zu anderen Gründern der IAS, die beim Start niemanden am Standort kannten. Die brauchten natürlich viel Werbung, und bei der IAS bekommen sie sie.
Gab es den Kontakt zu anderen IAS-Mitgliedern schon während der Gründungsphase?
Die Möglichkeit hätte es sicherlich gegeben. Es gibt zum Beispiel eine ERFA-Gruppe auf Facebook, die klasse funktioniert. Doch bei uns beschränkte es sich anfangs auf Herrn Leisten. Und wir haben uns mit unseren früheren Chefs in Stuttgart ausgetauscht. Auch das war toll – schon den Kontakt wieder aufzunehmen.
Das Knüpfen neuer Kontakte wurde durch Corona sehr erschwert. Die IAS-Seminare gehen ja jetzt erst wieder los. Aber wir bekommen jede Menge Informationen und sind immer auf dem aktuellen Stand. Es gibt wöchentlich Newsletter. Die Homepage ist gut gepflegt. Es gibt Schulungen für neue Mitarbeiter oder für Lehrlinge. Wir haben jetzt jemanden angestellt, der sich um den 3D-Druck kümmert. Da gab es über die IAS Kontakt zu anderen Mitgliedern, zum Herrn Langhammer zum Beispiel. Dort hatten wir einen ganzen Tag 3D-Schulung.
Planen Sie, Ihr Unternehmen weiterzuentwickeln? Und bleibt die IAS dabei Ihr strategischer Ansprechpartner?
Unbedingt. Erst letzte Woche habe ich Herrn Leisten angerufen, weil ich eine Frage hatte. Wir hatten sogar schon vor, ein zweites Geschäft zu eröffnen. Es gab den Laden und die Standortanalyse
von Herrn Leisten. Alle Zeichen standen auf „Machen!“. Wenn man gedanklich ohnehin noch in der Gründungsphase steckt, kann man ja gleich nachlegen…
Letztlich scheiterte es nur daran, dass die Person, die wir gern angestellt hätten, krankheitsbedingt ausfiel. Also haben wir es erstmal gelassen. Es muss alles passen, sonst lässt man lieber die Finger davon. Das kostet sonst zu viel Kraft. Wir achten da auch aufeinander. Wir teilen uns zum Beispiel auch die Arbeitszeit so, dass es für alle passt und nicht jeder bis 18 Uhr bleiben muss.
Sind Sie eigentlich auch außerhalb Ihres Ladens aktiv? Wie bringen Sie sich am Standort Erfurt ein?
Mit Hörtest- oder Apotheken-Aktionen war es durch Corona eher schwierig. Aber ein Schwerpunkt von uns ist Pädaudiologie; insbesondere die Versorgung von ganz kleinen Kindern. Dafür sind wir oft unterwegs, schulen in Frühförderzentren, besuchen Kindergärten und Schulen. Nächste Woche halte ich zum Beispiel einen Vortrag vor der Ärzteschaft. Und im Herbst ist hier DGA-Tagung, da bin ich ebenfalls dabei. Wir engagieren uns in einem Netzwerk, vertreten unseren Standpunkt. Es geht nicht darum, dort Kunden abzugreifen. Aber wir empfehlen uns so natürlich auch.
Wo sehen Sie die größten Herausforderungen der Zukunft?
Die allgemeine Entwicklung in der Wirtschaft und die politische Situation können momentan sicherlich Sorgen machen. Aber die Entwicklungen innerhalb der Branche machen mir keine Sorgen. Es ist klar, dass sich die Hörakustik verändert, und dass man mitgehen muss. Irgendwie geht es ja immer weiter. Man sollte dabei nur zum eigenen Anspruch stehen – und zu dem, was man gelernt hat.
Wir haben die Selbständigkeit gewählt, um unserem Anspruch weiter zu genügen. Ich möchte morgens noch in den Spiegel sehen können. Und ich brauche niemanden, der von McDonalds oder sonst woher kommt, um mir zu erklären, wie Hörakustik geht. Natürlich ist wirtschaftliches Handeln wichtig. Aber der Mensch muss im Mittelpunkt bleiben. Ich muss auch nicht stinkreich werden. Ich will nur schöne, ordentliche Arbeit leisten, Spaß daran haben und abends glücklich nach Hause zu meiner Familie gehen. Wenn noch ein, zwei Urlaube rausspringen, ist das auch schön.
Sie haben mit der Gründung erreicht, was Sie erreichen wollten?
Ja. Und es hat alles so gepasst, wie es Herr Leisten prognostiziert hat. Nur in einem Punkt lag er falsch.
In welchem?
Er meinte, dass man als Gründer schlecht schläft, weil man den sicheren Hafen der Festanstellung verlässt und sich erstmal viele Sorgen macht. Aber das haben wir nie. Wir haben uns immer wohl gefühlt und konnten alle gut schlafen. Das habe ich ihm auch schon gesagt. Er fand es lustig.
Was würden Sie Kolleginnen und Kollegen empfehlen, die mit dem Gedanken spielen, sich selbständig zu machen?
Das pauschal zu sagen, ist schwierig. Ich selbst würde den Schritt immer wieder machen – immer zusammen mit meinen Kollegen und immer mit der IAS. Aber man muss genau abwägen: Habe ich einen guten Standort? Bin ich der richtige Typ? – Wir sind anderthalb Jahre am Markt und kommen nun langsam zur Ruhe. Bis jetzt war es Stress pur, wirklich „selbst und ständig“, auch am Wochenende. Meine Empfehlung wäre, so was nicht allein anzugehen. Man braucht wenigstens jemanden, der den Tresen übernimmt oder einen Gesellen. Schon für den Fall, dass man mal ausfällt. Wenn man den Laden dann schließen muss, kommt das gar nicht gut an. Und man will sich ja auch mal austauschen, über fachliche Dinge sprechen.
Wenn man jedoch gut abgewogen hat und die Zeichen auf Grün stehen, dann würde ich loslegen. Auch dann, wenn man Ängste hat. Letztlich geht es da auch um unser Handwerk. Wobei ich gar nicht generell auf Großfilialisten schimpfen will. Mir ist nur wichtig, dass der Kunde im Fokus bleibt. Wenn es nur noch ums Geld geht, ist es falsch. Das ist auch nicht das, was unsere Gesellschaft braucht: Dass Menschen sehr hart arbeiten, wenig Geld kriegen und das Gefühl haben, dass es sich nicht mehr lohnt. Sowas ist nicht in Ordnung. Das hat Teile unserer Gesellschaft ziemlich kaputt gemacht.
Frau Bock, haben Sie vielen Dank für das interessante Gespräch!